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Knutschknuddel und die wundersame Geldvermehrung

2011-10-20

Vor drei Wochen stimmte der Bundestag ab über die EFSF, die so genannte „Eurorettung“. Die meisten Abgeordneten hatten zwar keine Ahnung, worum es geht oder wie viel Geld das den Steuerzahler kostet. (Spoiler: Es ging um zunächst mal 211 Milliarden Euro aus Deutschland.) Und ob überhaupt irgendjemandem klar war, dass die ganze Asche jetzt nicht etwa der EU zugeschoben wird, sondern einem privatwirtschaftlichen Unternehmen, ist auch arg zweifelhaft. Dieses Unternehmen nämlich, genau die EFSF (European Financial Stability Facility), ist eine luxemburgische AG ohne jede demokratische Kontrolle.

Ist aber auch alles nicht so wichtig, denn die 211 Milliarden reichen ohnehin nicht. War dem Herrn Finanzminister Schäuble wahrscheinlich von Anfang an klar, auch wenn er wochenlang rumdruckste und erst jetzt langsam rausrückt mit dem, was er tatsächlich vorhat. Weil er aber wohl ahnt, dass es vielleicht doch zu leisem Unmut kommt, wenn er plötzlich nicht mehr Milliarden, sondern Billionen fordert, hat er sich einen kleinen Trick einfallen lassen. Das Geld, das jetzt schon bewilligt wurde, soll nämlich gehebelt werden. So könne er aus 211 Milliarden locker ein paar Billionen machen, meint er.

Ehrlich gesagt, ich wäre auch gern so schlau wie der Herr Schäuble. Ich könnte zwar mangels Masse keine Milliarden hebeln, aber aus einem Zehner mal schnell nen Fuffi oder gar nen Hunderter zu machen hätte ja auch seinen Reiz. Also hab ich mal das Internet angeworfen und mich schlau gemacht, was es mit der wundersamen Geldvermehrung so auf sich hat.

Derivate und Optionsscheine

Wie funktioniert denn so ein Hebel? Ganz grob gesagt sind die meisten Hebel Derivate. Und was ist jetzt ein Derivat? Am einfachsten kann man das wohl an Optionen erklären.

Nehmen wir an, die Knutschknuddel AG verkauft Plüschtiere. Ihre Aktien stehen im Moment bei 100 Euro und sind gerade im Aufwind. Weihnachtsgeschäft und so. Ich hoffe, dass der Kurs weiter steigt.

PhotographyBySakura, http://www.flickr.com/photos/sakura-harusame/3106259946/

Diese Anlegerin kann ruhig schlafen: Sie verlässt sich auf drei erfahrene und sehr diskrete Vermögensberater. (1)

Der langweilige Weg

Da könnte ich jetzt einfach für 100 Euro eine Aktie kaufen. Wenn dann zu Jahresende eine Knutschknuddel-Aktie 130 Euro wert ist, kann ich die wieder verkaufen und habe 30 Euro Gewinn gemacht. Wenn der Kurs fällt, verkaufe ich eben mit Verlust. Oder ich warte, bis der Kurs wieder steigt. (Transaktionsgebühren und Steuern lassen wir mal weg. Die fallen nur für Kleinanleger ins Gewicht, Große mogeln sich da raus. Und wir denken jetzt groß.)

Wir machen es spannend

Aber die 30 Euro reizen mich noch nicht. Ich will mehr Gewinn machen. Also gehe ich zur Bank und sage der freundlichen Dame hinter dem Tresen: „Wetten, dass Knutschknuddel zu Jahresende mindestens 100 wert ist?“ Sie hält dagegen und bietet mir folgenden Deal an: Ich zahle 10 Euro dafür, dass ich zu Jahresende eine Knutschknuddel-Aktie für 100 kaufen kann. Dafür stellt sie mir eine Art „Wettschein“ aus. Dieser Wettschein ist nun eine Option. Was fange ich damit an?

Wenn Knutschknuddel Ende Dezember wirklich bei 130 Euro steht, kann ich den Wettschein einlösen. Ich darf dann eine Aktie für 100 kaufen und kann sie sofort wieder für 130 Euro verkaufen. 30 Euro minus die 10, die ich bereits für den Wettschein bezahlt habe, macht 20 Euro Gewinn. Und da ich ja 100 Euro zum Zocken habe, kann ich mir gleich 10 Optionsscheine von der Bank kaufen. Macht 200 Euro Gewinn, statt bloß 30 mit einer langweiligen Aktie. Also fast das Siebenfache. Toller Plan, nicht?

Dummerweise ist meine Kristallkugel aber gerade zur Reparatur. Das heißt, ich kann nicht wirklich sicher sein, dass Knutschknuddel 130 erreicht. Oder auch nur 110, womit ich Plusminus Null rauskäme. Wenn die Aktie nämlich am 31. Dezember zu 100 Euro gehandelt wird oder sogar darunter, sind meine Optionsscheine genau gar nichts mehr wert. Denn warum sollte ich sie noch einlösen („wahrnehmen“ sagt man da unter Zockern) und eine Aktie für 100 von der Bank kaufen, wenn ich sie im Spätkauf um die Ecke für, sagen wir, 95 haben kann? Und überhaupt: Ich habe dann ja gar kein Geld mehr. Auf die langweilige Tour hätte ich immerhin noch eine Aktie im Wert von 95 Euro. Mit den Optionsscheinen habe ich meinen gesamten Einsatz verbraten.

Es hätte mich auch stutzig machen müssen, dass die Bank überhaupt auf meine Wette eingeht. Denn offenbar haben die da ja nicht geglaubt, dass der Aufwärtstrend von Knutschknuddel anhält. Wenn sie das nämlich angenommen hätten, hätten sie besser selbst Aktien gekauft, statt sich auf meine Wette einzulassen.

Je komplizierter, desto crash

Optionen sind also so etwas wie Wetten. Wenn ich sie verliere, ist mein ganzer Wetteinsatz futsch. Und wie bei einer Wette braucht es immer jemanden, der dagegen wettet. Das ist in den meisten Fällen die Bank. Die hat einen großen Vorteil: Sie beschäftigt Tausende von Spezialisten, die den ganzen Tag über Börsen- und Wirtschaftdaten im Internet kucken und den Finanzmarkt analysieren. Ziemlich wahrscheinlich, dass diese Leute bessere Voraussagen treffen können als ich.

Da aber jeden Morgen genügend Leute aufstehen, die sich einbilden, sie seien schlauer als die Bank, findet sie auch immer genügend Dumme, die sich auf Wetten einlassen. Auf Optionen, Futures, Credit Default Swaps, Leerverkäufe, Forward Rate Agreements, Puts, Cross Currency Swaps und was es sonst noch an Derivaten gibt. Die heißen so, weil sie von den Kursen tatsächlicher Wertpapiere oder Güter abgeleitet sind (die alten Römer sagten dazu derivare). Manche von ihnen sind so kompliziert, dass selbst VWL-Professoren und Börsenanalysten nicht genau durchblicken. Faustregel: Je komplizierter, desto crash. Desto größer aber auch die Euro- und Dollarzeichen in den Augen der Anleger. Denn manchmal gewinnt tatsächlich auch der Anleger. Geschäftsrisiko. Auf lange Sicht (und die Finanzwelt hat einen sehr langen Atem) gilt aber immer die Zockerregel:

Im Kasino gewinnt immer nur die Bank.

Too Big to Fail

Erinnert sich noch jemand an die Bankenkrise von 2008/2009? Als Lehmann zusammenbrach und in der Folge eine Menge Banken in Schieflage gerieten? Das war zu Anfang eine Immobilienblase — das heißt, die Banken gaben Hinz und Kunz Kredite, um Immobilien zu kaufen, mit dem Effekt, dass die Preise für Häuser und Grundstücke in den USA immer höher stiegen. Als dann Hinz krank und Kunz arbeitslos wurde und beide die Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten, brach das Kartenhaus zusammen. Die Banken kassierten die ganzen Immobilien dann für billig ein, durften dafür aber ihre Hypotheken abschreiben. Das hätte das Bankensystem wahrscheinlich noch verkraftet. Wirklich dramatisch wurde die ganze Krise dadurch, dass die Banken selbst massiv mit Derivaten gezockt hatten. Oft wider besseres Wissen, aber die Aktionäre wollten es so. Am Ende hatten die Banken einen großen Teil ihres Eigenkapitals verbraten. Und dazu noch Schulden.

Zunächst bekamen deshalb Unternehmen, die zum Beispiel neue Maschinen brauchten, auch keine Kredite mehr. Dann munkelte man, dass auch die Spareinlagen, Pensionsfonds und Renten weg wären. Es kam zur Panik, zum Absturz der Börsenkurse und zur schlimmsten Wirtschaftskrise seit 1930. In Deutschland — man erinnert sich noch daran, was hierzulande nach 1930 so abging — wurde die Krise dadurch abgefedert, dass viele Arbeitnehmer über Monate auf einen Teil ihres Lohns verzichteten. Schließlich pumpten Staaten auf der ganzen Welt massiv Geld in die Banken, weil die ja „systemrelevant“ sind und „too big to fail“: Das heißt, die Regierungen hatten mehr Angst davor, dass die Banken zusammenbrechen, als davor, die Steuereinnahmen aus mehreren Jahren den Banken zu schenken. Die Bankenrettung kostete zehn Mal mehr als der zweite Weltkrieg. Allein in Deutschland fast 500 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Damit hätte man sämtliche Arbeitslose 20 Jahre lang durchfüttern können, plus Zinsen.

Die Banken hatten sich also in Wirklichkeit gar nicht verzockt. Auch diesmal nicht. Sie konnten sich nämlich darauf verlassen, dass die Staaten ihre Verluste ausgleichen, indem sie das Geld der Bevölkerung wegnehmen. Weil Banken ja wichtiger sind als Menschen.

Zeitbomben und Massenvernichtungswaffen

Was 2008 und 2009 als Verlustausgleich an die Banken ging, ist jetzt genau das Geld, das den Kindergärten und Schulen, dem Straßenbau, den Krankenhäusern und den Hartzern fehlt. Schlimmer noch: Der Staat hatte das Geld gar nicht. Er hoffte lediglich, es in den nächsten Jahren einzunehmen, was ja wegen der Wirtschaftskrise nun auch schwieriger geworden war. Er musste sich also dafür verschulden. Natürlich bei den Banken. Die flugs ihre Zinsen erhöhten, denn Geld war ja plötzlich teuer geworden. In manchen Ländern ist die Wirtschaft trotz allem so leistungsfähig, dass es noch einige Zeit dauern kann, bis dieses System zusammenbricht. Bei anderen Ländern, Griechenland zum Beispiel, ging es schneller.

Warren Buffett nannte deshalb Derivate schon mal „Zeitbomben“ und „Massenvernichtungswaffen“. Der Mann ist der zweitreichste der Welt und ein Über-Zocker. Der sollte es also wissen. Unser Finanzminister hat diese Erkenntnis noch vor sich. (Dass er schon weiß, was er da tut, will ich mal zu seinen Gunsten nicht annehmen. Ich bin halt hoffnungslos gutgläubig.)

Herr Schäuble: Wie wäre es denn, wenn Sie mal Herrn Buffett anriefen und ihn um Rat fragten, bevor sie hier die große Illusionisten-Show geben? Dochdoch, Herr Buffett hätte sicher ein paar Minuten Zeit für Sie. Und wenn Ihr Englisch nicht reicht, hilft Herr Westerwelle garantiert gerne aus.

(1) (CC) by-nc-nd 2.0  PhotographyBySakura. Link auf Flickr.