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Die Antwort auf den 11. September

2009-09-11

Wir saßen zusammen im Konferenzraum, alle Entwickler und Berater der Software-Firma, in der ich damals arbeitete, und legten den Rahmen fest für die neue Version unseres Produkts, das nicht alles anders, aber vieles besser machen sollte. Während einer kurzen Pause ging ich rüber ins Büro zu einer guten Freundin, die damals im gleichen Unternehmen arbeitete. Sie schaute auf den Bildschirm und sagte mir, in New York sei ein Flugzeug in eines der Hochhäuser geflogen. Ich dachte zunächst an einen verwirrten oder selbstmörderischen Sportflieger.

Dann sah ich, was passiert war.

Dann war das Internet weg.

Und dann schraubte sich diese Zeile von REM in meinen Kopf:

This is the end of the world as we know it.

Wir arbeiteten weiter, trotzdem. Aber die Zeile blieb stehen, noch tagelang, wie eine Neonreklame, in die man zu lange geschaut hat, wenn man dann die Augen schließt.

Dann kamen die Bilder, abends in den Nachrichten, von den Menschen, die sich in Panik aus den obersten Stockwerken gestürzt hatten und Hunderte Meter tiefer auf dem Asphalt aufschlugen, wie nasse Säcke. Manhattan, nachdem die Türme zusammen gebrochen waren: Es sah aus wie nach einem Atomschlag. Und immer wieder die Videos von den beiden 767, wie sie sich in die Türme bohrten und dann explodierten.

Dann die Angst vor einem Weltkrieg. Die Angst vor weiteren Anschlägen – in jeder großen Stadt, weltweit; ich sah die Menschen in den Großstädten nur noch als „weiche Ziele“. Die „uneingeschränkte Solidarität“ Schröders. Die permanenten Durchsagen, auf herumstehende Gepäckstücke zu achten. Stundenlange Schlangen vor den Check-ins am Flughafen.

Und langsam wurde all das zur Normalität.

Acht Jahre her heute. Ich bin sicher, die meisten erinnern sich noch genau daran, was sie am 11. September 2001 getan, gedacht, gefühlt haben. Es gibt ein Wiki, das unter anderem Erlebnisberichte sammelt – auch von Menschen (wie mir), die weit weg waren vom Geschehen.

Wie hat sich für uns die Welt verändert? Statt selbst einen langen Text zu schreiben, empfehle ich den Artikel „Freiheit statt Terrorismus“ im Blog „Politicool“. Aaron Koenig, Bundesvorstand der Piraten, schreibt dort:

[D]iese Anschläge werden von Regierungen in den USA und Europa als Vorwand missbraucht, um die Freiheitsrechte der Bürger immer weiter einzuschränken. […]

Politiker, die unsere Freiheitsrechte für eine angebliche Sicherheit opfern, mögen lautere Absichten haben – doch tatsächlich spielen sie den Terroristen in die Hände. Die Täter des 11. Septembers hassen die Freiheit und die Demokratie. Sie hassen die Werte der Aufklärung, auf denen unsere freiheitliche Gesellschaft beruht. Wenn unsere Politiker diese Werte jetzt leichfertig aufgeben, haben Osama Bin Laden und seine Gesinnungsgenossen genau das erreicht, was sie wollen.

Besser gesagt, als ich das könnte. Ob totalitäres Taliban-Regime oder totalitärer Überwachungsstaat: Wer die freie Gesellschaft erhalten und stärken will, der muss gegen das Eine wie gegen das Andere kämpfen.

Die Antwort auf den 11. September 2001 kann nur heißen: 12. September 2009. Berlin, Potsdamer Platz, 15:00 Uhr.

Robustes Mandat

2009-09-05

Einmal angenommen, Kaufhausdiebe stehlen einen ganzen Sack Handys aus einem Elektronikmarkt. Die Polizei folgt ihnen, hält sie aber nicht auf, bis sie ihr Ziel erreicht haben: eine Wohnung in einem dicht bebauten Häuserblock. Jetzt fordert die Polizei militärische Unterstützung an und gibt die Anweisung, den Häuserblock zu bombardieren. Genau das geschieht. Von den 500 Menschen, die sich zu der Zeit im Block aufhalten, überleben wie durch ein Wunder etwa 400, zum Teil aber mit schweren Verbrennungen und für ihr Leben verstümmelt. 90 Menschen sind beim Angriff gestorben. Höchstens 40 von ihnen hatten mit den Dieben zu tun.

Unvorstellbar? Deutsche Polizei und deutsches Militär würde so etwas nie tun?

Vermutlich nicht in Deutschland. In Afghanistan herrschen andere Sitten.

Was geschah

Aus den bisherigen Nachrichten (Spiegel Online, Stuttgarter Zeitung, AP, Zeit Online, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche) ergibt sich momentan dieses Bild: Taliban klauen um 01:50 Uhr nachts zwei Tanklaster, die für die deutschen Truppen dort bestimmt sind. Die Bundeswehr verfolgt die Laster mit einer Drohne und entdeckt sie auf einer Sandbank im Fluss Kundus, wo Benzin bzw. Kerosin an die örtliche Bevölkerung verteilt wird. Oder aber, die festsitzenden Tankzüge haben Sprit abgelassen, um wieder manövrierfähig zu werden, und die Menschen eines nahen Dorfs strömen herbei, um etwas davon abzubekommen.

Jetzt befiehlt die Bundeswehr einen Luftangriff. Der erfolgt um 02:30 und ist – im militärischen Sinn – überaus erfolgreich: Die beiden Tanklaster explodieren, viele Menschen verbrennen, sterben.

Soweit sind sich die Quellen weitgehend einig. Der Streit beginnt, wo es um die Opfer geht.

Zivile Opfer

Bundeswehr und Verteidigungsministerium beharren darauf, dass alle fast alle Opfer (die Rede ist von etwa 50) „Aufständische“ gewesen seien. (Und die genießen ja, als nicht-militärische Kombattanten, weder den Schutz der Menschenrechte noch den der Genfer Konvention – so macht sich die deutsche Führung implizit die Guantánamo-Doktrin zu eigen.) Das will nicht einmal die NATO gelten lassen: Sie hat eine Untersuchung eingeleitet. Tatsächlich ist schwer zu glauben, dass Dutzende von Taliban an einer leicht zu identifizierenden Stelle sich um zwei Tanklaster scharen und freiwillig Zielscheibe spielen.

Die u. a. in Deutschland und von Deutschen aufgebaute afghanische Polizei spricht dagegen von 40 zivilen Opfern. Hamid Karsai (ebenfalls nicht gerade als Taliban-Freund bekannt) und der Gouverneur der Provinz nennen 90 Tote. Die BBC berichtet von „vielen Dorfbewohnern“ unter den Toten. Laut afghanischem Gesundheitsministerium waren zur Zeit des Bombardements 200 – 250 Dorfbewohner in der Nähe der Tanklaster.

Die Taliban schließlich behaupten, der Angriff hätte überhaupt keinen ihrer Kämpfer getroffen. Alle 150 Opfer seien nach ihrer Darstellung Zivilisten gewesen.

Bekanntlich ist im Krieg die Wahrheit das erste Opfer, noch vor den Menschen. Wenn wir also einmal die beiden Kriegsparteien außen vor lassen – Deutschland und die Taliban – scheinen die Angaben der afghanischen Regierung am glaubwürdigsten zu sein: Etwa 90 Tote, mindestens die Hälfte davon Zivilisten; 200 – 250 Menschen am Ort des Bombardements, eine unbekannte Anzahl Verbrannter und Verstümmelter.

Kein Bedauern

Wer Kriegsberichterstattung verfolgt, weiß, dass normalerweise schon bei weitaus weniger Opfern unter der Zivilbevölkerung das große Lamento angeworfen wird: Da wird bedauert und auf die Unübersichtlichkeit der Lage verwiesen; behauptet, eigentlich sei die Gegenseite schuld, weil sie Zivilisten als Schutzschilde halte; gerne auch mal die Überreaktion Einzelner als Grund genannt, die ja permanent unter einem unmenschlichen Druck stünden (das glaube ich gerne, aber unter welchem Druck steht dann erst die nicht militärisch ausgebildete Zivilbevölkerung, für die jede falsche Bewegung das Todesurteil bedeuten kann?). Keine militärische oder politische Führung möchte den Verdacht aufkommen lassen, man bombardiere und terrorisiere die Bevölkerung oder sei gar auf Genozid aus. Im Gegenteil, man sei ja in Wirklichkeit Verbündeter des Volkes, dessen Land man leider anzugreifen gezwungen sei.

Nicht so in diesem Fall. Schon bald nach dem Massaker mindestens 200 Menschen übernimmt die Bundeswehr die Verantwortung: Nicht unbedingt stolz, aber lakonisch und soldatisch knapp. Als im Lauf des Freitags Kritik aufkommt, bezieht das Verteidigungsministerium Angriffsposition: Der Sprecher des Ministeriums belehrt die Journaille im „warmen Sessel in Berlin“, es sei völlig unmöglich, dass mitten in der Nacht größere Menschenmengen zu einem havarierten Tanklastzug kämen. (Vermutlich muss man sich dazu die schnarrende Stimme eines preußischen Kavallerie-Leutnants vorstellen.)

Fakt allerdings: Es ist Ramadan. Tags wird gefastet, nachts gegessen. Und in Nord-Afghanistan, so schwer wir uns das vorstellen können, ist Sprit eine Kostbarkeit.

NATO- und EU-Spitze gehen vorsichtig auf Distanz, auch die finnische und die britische Regierung sehen die deutsche Militäraktion kritisch. Die deutsche Führung nicht: Verteidigungsminister Jung redet weiter von einem „robusten Stabilisierungseinsatz“. Auch der Offizier, der für die Luftangriffe verantwortlich ist, sei keinesfalls ein einzelgängerischer Rambo, sondern ein „ausgesprochen besonnene[r] Offizier, der alles andere als ein Hasardeur ist“, so das Ministerium.

Also: Kein Unfall, keine Fehlentscheidung, kein Durchdrehen, kein tragischer Irrtum, kein Kollateralschaden, kein Bedauern. Die Bundeswehr lässt mindestens 50 Zivilisten umbringen, über 100 verbrennen, und die deutsche Regierung sagt: Alles nach Plan. Also: Absicht?

Man will es nicht glauben müssen, aber wie die Regierung das Massaker rechtfertigt, lässt kaum eine andere Auslegung zu. (Über die Alternative – dass nämlich die militärische die politische Führung so sehr im Griff hat, dass Berlin jedes Abenteuer der Bundeswehr abnicken muss – will ich erst gar nicht nachdenken. Sie scheint mir auch nicht sehr wahrscheinlich.)

Ich bin kein Jurist. Aber soweit ich es verstehe, zählt die Bombardierung der Zivilbevölkerung zu den Kriegsverbrechen – insbesondere dann, wenn sie nicht in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten militärischen Ziel steht („Kollateralschaden“). Und von „Kollateralschaden“ ist ja in den Erklärungen der deutschen Regierung explizit nicht die Rede.

Verantwortung

Wenn aber die Bombardierung der Zivilbevölkerung Teil der Strategie der deutschen Führung ist (oder sie zumindest billigend in Kauf genommen wird), dann war das Massaker in der Nacht von Donnerstag auf Freitag nicht nur ein Kriegsverbrechen: Es ist ein Kriegsverbrechen, für das die aktuelle deutsche Regierung die Verantwortung zu übernehmen hat.

Zunächst einmal Verteidigungsminister Jung, als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte. Dann auch Bundeskanzlerin Merkel, die ja laut Grundgesetz Art. 115 b Oberbefehlshaberin der Streitkräfte im Verteidigungsfall ist. Der Verteidigungsfall wurde bereits am 2004-03-11 vom damaligen Verteidigungsminister Struck erklärt; auch wer das nicht gelten lassen will (denn eigentlich hätte das Parlament ja zustimmen müssen, das hat es implizit freilich durch die Genehmigung und Verlängerung der Afghanistan-Einsätze wiederholt getan), dürfte spätestens seit gestern keine Zweifel mehr daran haben, dass Deutschland sich im Krieg befindet.

Innere Sicherheit

Innenminister Schäuble spricht seit Monaten von terroristischen Anschlägen in Deutschland vor der Bundestagswahl. Ironischerweise könnte er Recht behalten. Jetzt. Deutschland hat einen asymmetrischen Gegner herausgefordert. Womöglich sogar mit Absicht.

Ein blutiger Terror-Anschlag kurz vor der Wahl würde Schwarz-Gelb zu Traumquoten verhelfen und unser Land binnen Monaten so verändern, dass wir es nicht wieder erkennen würden.

Der Krieg in Afghanistan wäre nicht der erste Krieg, dessen wahre Ziele im Inneren liegen.