Archive for August, 2009

Offener Brief zur Vorratsdatenspeicherung (2007)

2009-08-29

In meinen Mail-Archiven gefunden: Ein Offener Brief an alle Bundestagsabgeordneten, den ich am 2007-11-07 (zwei Tage vor der Abstimmung über die Vorratsdatenspeicherung) über http://briefe.gegen.daten.speicherung.eu/ verschickt habe. Geholfen hat es nichts. Aktuell ist der Text heute wie vor zwei Jahren — er müsste freilich noch um eine Reihe zusätzlicher Überwachungs- und Zensurmaßnahmen ergänzt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ab dem 09. November müssen wir Bürger(innen) und Einwohner(innen) der Bundesrepublik Deutschland aufpassen, was wir sagen. Wir müssen aufpassen, was wir lesen. Wir müssen aufpassen, mit wem wir reden.

18 Jahre nach dem Ende des DDR-Regimes ist Deutschland wieder auf dem besten Weg, zum Überwachungsstaat zu werden. Voraussichtlich am 09. November – passenderweise dem Jahrestag des Mauerfalls – entscheiden Sie über das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Wenn es beschlossen wird, heißt das: Mit wem wir telefonieren, wie lange und von wo, wann und mit wem wir in eMail-Kontakt stehen oder mit wem wir chatten, welche Mailing-Listen wir beziehen, wann und wie lange wir ins Internet gehen – all diese Informationen müssen die Provider künftig über 6 Monate lückenlos zusammen mit unseren persönlichen Daten speichern und diese Informationen den Behörden auf Verlangen weitergeben. Die Kosten dafür tragen wir selbst, über erheblich höhere Gebühren für Telefon- und Internet-Nutzung, die durch den immensen technischen Aufwand vorhersehbar entstehen.

Angeblich, um uns vor Terroristen und unsere Kinder vor Triebtätern zu schützen. Das ist, mit Verlaub, lächerlich: Wer die kriminelle Energie aufbringt, eine U-Bahn in die Luft zu jagen, wird kaum davor zurückschrecken, einen fremden Rechner zu hacken oder gefälschte Konten im Internet-Café zu benutzen. Drogenhändler arbeiten mit gestohlenen Handys und Wegwerf-Prepaid-Karten, die sie unter falschem Namen anmelden, wenn überhaupt. Und Kinderpornoringe verschieben ihre Ware vermutlich über täglich wechselnde gehackte Server, oft von ahnungslosen Unternehmen oder Universitäten.

Die flächendeckende Telefon- und Online-Überwachung trifft nicht Bombenleger und Schwerkriminelle, sondern die Interessierten und Engagierten, die Ehrlichen und Aufrichtigen, und schließlich auch die technisch Unbedarften, die keine Möglichkeit mehr haben, ihr Privatleben vor den allgegenwärtigen elektronischen Suchscheinwerfern zu schützen.

Angeblich dürfen Kommunikationsdaten nur auf richterlichen Beschluss abgefragt werden. Auch das ist schwer zu glauben. Bei der Einführung der elektronischen Maut wurde versichert, dass die Technik nur zur Abrechnung der Autobahngebühren benutzt würde und nicht, um Bewegungsprofile der Autofahrer zu erstellen. Dieses Versprechen wurde nur kurze Zeit später bereits gebrochen.

Als das Bankgeheimnis in Deutschland eingeschränkt wurde, hieß es, die Maßnahme richte sich gegen Geldwäsche und organisierte Schwerkriminalität. Inzwischen überwachen Jobcenter die Kontenbewegungen von ALG II-Empfängern. Wer von Sozialhilfe leben muss, den behandelt der Staat also wie einen Schwerkriminellen. Wer arm ist, macht sich verdächtig.

(http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Hartz-IV-Kontenabfrage;art122,2342474)

Wer wissenschaftlich arbeitet, macht sich verdächtig. In diesem Land genügt es inzwischen, soziologische Fachbegriffe wie „Gentrifizierung“ zu gebrauchen und einen Bibliotheksausweis zu besitzen, um monatelang mitsamt Partner und Kindern unverhohlen überwacht und schließlich als Terrorist ins Gefängnis gesteckt zu werden.

(http://www.zeit.de/online/2007/44/Militante-Gruppe-Ueberwachung?page=all)

Massive Polizeirazzien im Vorfeld des G-8-Gipfels erwecken auch bei Medienbeobachtern aus der politischen Mitte den Eindruck, bei den Repressalien ginge es weniger um Gefahrenabwehr als um Einschüchterung und Kriminalisierung von politischem Protest.

(http://www.zeit.de/online/2007/20/g8-durchsuchungen?page=all)

Und Ministerpräsident Beckstein fordert medienwirksam, dass Terrorverdächtige „sich nur in einer kleinen, gut zu überwachenden Kommune aufhalten dürfen, es sollte Internet- und Handyverbot gelten“.

(http://www.welt.de/politik/article1160540/Beckstein_fordert_Handyverbot_fuer%20_Topgefaehrder.html)

Wer legt fest, wer als Terrorverdächtiger zu gelten hat? Ist es bloße Hysterie, wenn einem dazu Begriffe wie „Guantánamo“ einfallen? Für solche Einrichtungen, wie sie Herr Beckstein vorschweben, gab es vor rund 70 Jahren in Deutschland ein griffiges Kürzel. Es fing mit K an und hörte mit Z auf.

Diese Beispiele machen vielleicht verständlich, warum die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes nicht mehr darauf vertrauen können, dass die geplanten Überwachungsmaßnahmen tatsächlich und ausschließlich dem Schutz vor Terrorismus und anderen schweren Straftaten dienen. Sie mögen als Abgeordnete(r) in der Debatte und der Abstimmung die ehrlichsten und hehrsten Absichten hegen – ist das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung erst einmal erlassen und werden Kommunikationsdaten massiv gehortet, ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Zudem ermöglicht das Gesetz zur in Kombination mit der „Cybercrime-Konvention“ (vgl. Drucksache 666/07 des Deutschen Bundesrats, im Internet unter http://www.bundesrat.de/cln_051/nn_8336/SharedDocs/Drucksachen/2007/0601-700/666-07,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/666-07.pdf abzurufen), dass „ausländische Staaten […] ohne rechtsstaatliche Sicherungen, also ohne vorherige richterliche Anordnung […] auf sensibelste Daten über unser Privatleben und unsere sozialen Beziehungen zugreifen“ können, wie der Jurist Patrick Breyer erklärt.

(http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/154/55/lang,de/)

In diesem Fall sind die in Deutschland gültigen Datenschutzbestimmungen obsolet. Ausländische Regierungen, Behörden und Geheimdienste werden sich von den Bedenken eines deutschen Datenschutzbeauftragten kaum beeindrucken lassen. Welche verheerenden Auswirkungen das auf die Sicherheit deutscher Bürger im Ausland, auf die Reisefreiheit und auf die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland haben kann, ist leicht vorstellbar.

Nun wird gelegentlich argumentiert, die Vorratsdatenspeicherung sei keine Totalüberwachung der elektronischen und Telefonkommunikation, da ja lediglich Kontakt- und Verbindungsdaten, aber nicht die Inhalte der Kommunikation gespeichert würden. Dies ist aber aus mehreren Gründen nur die halbe Wahrheit:

(1) Bereits die Überwachung aller sozialer Kontakte aller Einwohner des Landes ist ein massiver Eingriff in die Intimsphäre und bietet ein hohes Missbrauchspotenzial.

(2) Es ist technisch leicht und ohne weiteres möglich, die Überwachungsdaten von Clients (Internet-Nutzern) und Servern (Seitenanbietern) zu verknüpfen und so z. B. zu erfahren, welche Personen im Internet zu welchem Zeitpunkt nach welchen Inhalten recherchiert haben.

(3) In vielen Bundesländern ermöglichen die Gesetze zur präventiv-polizeilichen Telekommunikationsüberwachung bereits die vollständige Speicherung und Kontrolle der Inhalte telefonischer und elektronischer Kommunikation ohne konkreten Tatverdacht. Es genügt dabei, „wenn jemand unwissentlich in den Umkreis eines Terrorverdächtigen kommt, sei es als Arbeitskollege oder Sportkamerad, Nachbar oder WG-Mitbewohner“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4ventiv-polizeiliche_Telekommunikations%C3%BCberwachung). Da mit der Vorratsdatenspeicherung jeder soziale Kontakt für die Behörden überprüfbar ist, müssen wir damit rechen, dass Telefon- und eMail-Überwachung massiv ausgeweitet werden. Bereits jetzt ist Deutschland Überwachungsweltmeister. Künftig reicht es im Extremfall, wenn ein Bürger den gleichen Arzt anruft oder das gleiche Diskussionsforum besucht wie ein Verdächtiger, damit ohne sein Wissen jede seiner Äußerungen protokolliert und gespeichert wird.

(4) Jede Überwachungsmaßnahme weckt Begehrlichkeiten nach mehr. Sie wissen selbst am besten, wie Politik funktioniert – Stichwort „Salamitaktik“. Wir können jetzt schon Wetten darauf abschließen, wann Überwachungsbehörden und Sicherheitsexperten die vollständige Speicherung aller Inhalte fordern, mit dem Argument „Unsere Maßnahmen sind wirkungslos, wenn wir zwar wissen, wann wer mit wem gesprochen hat, aber nicht, was dabei gesagt wurde“.

Dabei sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, private Kommunikation sei zu uninteressant oder zu umfangreich, um lückenlos überwacht zu werden. Dazu braucht es keine Zigtausende von Polizisten und Geheimdienst-Angestellten. Überwachungssysteme wie Echelon, Suchmaschinen wie Google oder die Spam-Filter der großen Provider zeigen, welche Informationsmengen vollautomatisch bewältigt werden können, wenn die nötige Rechenpower zur Verfügung steht – die ja die Überwachten selbst bezahlen sollen. Die Forschungsgelder, die in das „semantische Web“ gesteckt werden, werden sich schließlich auch auszahlen – mit dem Ziel, bestimmte Inhalte, Themen, Meinungen zu finden, ohne dass dafür nach Schlüsselwörtern gesucht werden muss. Das Ergebnis ist eine Überwachungsdatenbank Orwellschen Ausmaßes, in dem alle sozialen Kontakte, Bewegungsprofile, Tagesabläufe, Meinungen und Interessen aller Bürger gespeichert sind.

Bereits jetzt wirkt die „Schere im Kopf“. Wir wissen, dass viele Internet-Nutzer zögern, einen bestimmten Suchbegriff einzugeben, eine bestimmte Seite anzusurfen oder ihre Meinung in einem Forum zu schreiben. Forenbetreiber beschneiden die Meinungsfreiheit der Teilnehmer aus Angst vor Unterlassungs- und Schadensersatzklagen, die sie in den Ruin treiben können – eine Angst, die seit den Urteilen zur Forenhaftung nicht mehr ganz unbegründet ist.

Wer wird künftig noch Kontakt halten wollen zu entlassenen Strafgefangenen, zu kritischen Journalisten oder engagierten Anwälten? Wer wird noch unbesorgt eine Sozial- oder Suchtberatungsstelle anrufen können, den Kinder- oder Frauennotruf, eine Bürgerinitiative, den Notarzt oder auch nur die Telefonseelsorge, wenn er weiß, dass diese „sozialen Brennpunkte“ sicherlich überwacht werden und bereits die Kontaktaufnahme einen Anfangsverdacht begründet? Wie sollen soziale Einrichtungen künftig noch vertraulich arbeiten können, wenn jede Überwachungsbehörde jederzeit eine komplette „Kundenliste“ abrufen kann?

Wer schützt uns davor, dass Verbrecher unsere Identität stehlen und unter unserem Namen schwere Straftaten begehen? Wie leicht das mit dem neuen elektronischen Pass möglich ist, erläutert Thilo Weichert, der Leiter des Landeszentrums für Datenschutz in Schleswig-Holstein, auf http://www.heise.de/newsticker/meldung/98237. Künftig stünden wir dann nicht nur unter falschem Verdacht, sondern unsere Familien, Freunde, Arbeitskollegen und Geschäftspartner würden sämtlich zum Ziel peinlichster, intimster Ermittlungen – und selbst wenn sich der Verdacht schließlich aufklärt, ist unser soziales und Berufsleben vermutlich auf Dauer zerstört.

Wer kann verhindern, dass wir künftig Selbstauskunft über unser Bewegungs- und Sozialverhalten geben müssen, wenn wir uns um eine Arbeit oder eine Wohnung bewerben, ein Bankkonto eröffnen oder eine Versicherung abschließen wollen? Der Arbeitgeber möchte wissen, mit welchen Menschen wir zu tun haben, ob wir Kontakt zur Konkurrenz haben und wo wir unsere Freizeit verbringen. Der Vermieter interessiert sich für unseren Tagesablauf und unser soziales Umfeld – deuten unsere Telefonate auf einen umfangreichen Freundeskreis hin, auf promiskes Verhalten oder gar auf Homosexualität? Die Bank will erfahren, ob wir sozial Schwache in unserem Bekanntenkreis haben, und für die Versicherung ist interessant, ob wir lange Telefongespräche führen (Hinweis auf persönliche Probleme), ob wir häufig beim Arzt sind oder gar bei Beratungsstellen angerufen haben. Natürlich können wir uns weigern – aber dann bleiben wir arbeits- und wohnungslos. Wer immer wirtschaftlichen Druck auf uns ausübt, kann ungehindert in unserem Privatleben schnüffeln. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, wäre, das Recht auf Selbstauskunft abzuschaffen – mit dem Effekt, dass wir nicht einmal mehr erfahren dürfen, was alles über uns gespeichert ist.

Die Vorratsdatenspeicherung schafft ein Klima der sozialen Isolation, der Überwachung, des gegenseitigen Misstrauens, der Angst. Würde Erich Mielke noch leben, er müsste frohlocken – dass der „Klassenfeind“ seine Methoden der totalen Überwachung des Soziallebens übernimmt und mit modernsten technischen Mitteln noch verschärft, wäre ihm ein später und zynischer Triumph. Die Vorratsdatenspeicherung macht aus einem souveränen, politisch mündigen Volk ein Volk von potenziellen Straftätern, das unter Dauerverdacht steht, das jedes Gespräch, jede Freundschaft, jeden privaten oder geschäftlichen Kontakt vor den Augen misstrauischer Überwachungsbehörden rechtfertigen muss.

Daher bitte ich sie inständig: Stimmen Sie morgen, am 09. November 2007, gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Folgen Sie ihrem Gewissen, nicht der Parteiraison. Setzen Sie ihr Wissen und ihre rhetorischen Fähigkeiten in der Debatte dafür ein, für den Rechtsstaat und den Erhalt der Grundrechte zu werben. Lassen Sie sich von einem Klima der Hysterie und des Generalverdachts nicht dazu verleiten, ein Gesetz mitzutragen, das nur zu noch mehr Hysterie und Verdächtigungen führt. Das vorgebliche Argument, wir müssten unsere Freiheit verteidigen, darf nicht dazu führen, dass die Bürgerrechte so weit durchlöchert werden, bis es schließlich nichts mehr zu verteidigen gibt.

Ich wünsche Ihnen und der Demokratie alles Gute.

Ahmadinejad ist schuld

2009-08-24

Warum ich Pirat bin – die Frage hat man mir in den letzten Wochen etliche Male gestellt. Mal im Gespräch mit Freunden („Was hat dich denn gebissen, dass du plötzlich so politisch bist?“), mal mit einem richtig dicken, fellbehängten ARD-Mikro (und jetzt ohne Vorbereitung und Schminke und ganz spontan in zehn Sekunden was Fernsehgerechtes formulieren, möglichst ohne „Äh“s und mit einer festen, engagierten, aber auf jeden Fall sympathischen Stimme – eine gute Übung …)

Antworten darauf gibt’s eine ganze Menge. Dass unsere Regierung Schritt für Schritt Freiheitsrechte beschneidet und Überwachungsmechanismen installiert, auf die ein Mielke stolz gewesen wäre. Dass Unternehmen dem schlechten Beispiel folgen und ihre Mitarbeiter, Kunden, Besucher auf eine Art bespitzeln und durchleuchten, die „widerwärtig“ zu nennen noch untertrieben wäre. Dass eine Ministerin nur „Kinderporno“ schreien muss, damit Grundrechte, die über Jahrzehnte unantastbar waren, einfach abgeschafft werden, eine Zensur eingeführt wird und das Parlament das Ganze mit überwältigender Mehrheit durchwinkt. Dass die vier Reiter der Infokalypse (Terror, Kinderporno, Drogenhändler, Raubkopierer) als Rechtfertigung noch jeder Gängelung und Bespitzelung herhalten müssen. Dass eine Gruppe im BKA, die nicht demokratisch kontrolliert wird, eine geheime Liste nicht genehmer Seiten erstellt, die ebenfalls nicht demokratisch kontrolliert wird – und wer in die Falle tappt, gegen den kann strafrechtlich ermittelt werden, mit Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Verlust von Arbeitsplatz, Wohnung, Beziehung. Dass die große Koalition, voran Innenminister Schäuble, ein Klima der Angst, Verdächtigung und Rechtsunsicherheit schürt, das die Menschen nicht nur daran hindert, ihre Meinung zu äußern („Lieber nichts sagen, wenn ich meinen Job behalten will“), sondern schon daran, sich überhaupt zu informieren („Lieber nicht klicken, es könnte ja ein Stopp-Schild lauern“).

Dass Politik, wie sie sich heute in Deutschland gebärdet, gar keine erkennbaren Ziele mehr hat oder auch nur breit diskutiert würde – sondern nur noch verwaltet (meist im Interesse der Großkonzerne) und dabei nicht bereit ist, Eigenverantwortung zu übernehmen, sondern sich auf „Befehlsnotstand“ aus Brüssel beruft (ja wer zum Teufel hat denn die ganzen Kommissare nach Brüssel geschickt?). Damit ich recht verstanden werde: Ich bin mit Herz und Hirn Europäer. Aber damit Europa akzeptiert wird, muss es demokratisch funktionieren – und das tut es im Moment einfach nicht. Dass laut über eine Halbierung der Hartz-IV-Sätze nachgedacht wird, gleichzeitig aber die Banken, die ja wohl hauptverantwortlich für die momentane Wirtschaftskrise sind, als Belohnung für Gier und Unfähigkeit über 500 Milliarden an Steuergeldern allein in Deutschland erhalten, und mit diesem Geld fröhlich weiter spekulieren, statt es in die produktive Wirtschaft weiterzuleiten – und die Verträge, die diesen Geldsegen festlegen, vor dem normalen Bürger geheim gehalten werden: Dass in Zukunft anders gewirtschaftet würde, ist unter diesen Bedingungen kaum zu befürchten.

Dass das Internet zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit geschaffen hat, alle an Kultur, Bildung und Information teilhaben zu lassen – aber Regierende und Content-Industrie alles tun, um diese digitalen Güter künstlich knapp zu halten und einen Großteil der Nutzer zu kriminalisieren. Dass die digitale Verteilung der Kultur aber einfach nicht mehr gestoppt werden kann, es sei denn um den Preis massiver Überwachung und Einschränkung jedes Bürgers (aber vielleicht ist ja gerade das gewollt, siehe oben).

Dass Demos wenig bewirken und Online-Petitionen (wie das gegen die Internet-Zensur) vom Parlament schlicht ignoriert werden, selbst wenn über 130.000 Bürger unterzeichnen. Dass es deshalb eine Partei wie die Piraten braucht, die die Spielregeln des parlamentarischen Systems nutzt, um dieses System zu verändern – oder besser gesagt, nicht so sehr zu verändern als mehr auf die doch sehr brauchbare grundgesetzliche Grundlage zurückzuführen.

Und dass es in einer noch recht kleinen Partei mit dafür sehr engagierten und überwiegend sehr kompetenten Leuten einfach mehr Spaß macht, politisch zu arbeiten, und mehr Erfolgserlebnisse verschafft, als wenn ich mich z. B. in einen grünen, linken oder sozialdemokratischen Ortsverein setzen würde (die anderen beiden kämen für mich eh nicht in Frage).

Das alles sind gute Gründe, Pirat zu werden. Aber den Anstoß hat mir ein anderer gegeben – nämlich der iranische Schon-wieder-Präsident, Antisemit, Holocaust-Leugner und Atombombenbastler Ahmadinejad – der ja u. a. ganz gern mal mit deutscher Überwachungstechnologie beliefert wird, sozusagen als Crash-Test-Dummy – bzw. die Vorgänge um seine „Wiederwahl“.

In diesen Wochen, als für kurze Zeit die Hoffnung aufkeimte auf einen demokratischen Umschwung im Iran, der weder von den Mullahs noch von der CIA gesteuert würde, sind mir nämlich drei Dinge klar geworden:

  • Was auch in Mitteleuropa möglich ist, wenn es den Herrschenden gelingt, Wahlen und demokratische Entscheidungen unüberprüfbar zu machen. Nicht dass ich Schäuble und Konsorten schon für ausgemachte Demokratiefeinde hielte: Aber welches Scheunentor sie aufmachen mit ihrer allumfassenden Kontrolle der Bürger und den damit einher gehenden Möglichkeiten der Manipulation, werden sie wohl erst begreifen, wenn es für uns alle zu spät ist. Die „Schere im Kopf“ hat dann genau die mundtot gemacht, deren Meinung wir dringend hören müssten.
  • Dass das Internet viel mehr ist als eine Spielwiese für technikverliebte Männer und exhibitionistische Zeitgenossen. Dass es das erste Medium ist, wo weder wirtschaftliche noch politische Macht entscheidend ist (obwohl es hilft), sondern vor allem Inhalt und Glaubwürdigkeit. Und dass genau diese Offenheit geschützt werden muss.
  • Wie wichtig es sein kann, anonym seine Meinung äußern zu können, besonders in Zeiten der Unterdrückung. Wer damit rechnen muss, dass nachts die Basiji die Tür eintreten, möchte vielleicht lieber seinen Namen nicht nennen. Und wer, wie hierzulande, damit rechnen muss, dass all seine Kontakte, Bewegungsprofile, Krankheiten, Kontenbewegungen, angeklickten Websites etc. gespeichert werden, lieber auch nicht – allein schon, um die Menschen zu schützen, die ihm lieb sind.

Also: Danke, Mahmud, alter Folterfreund. Du hast meinen Entschluss beschleunigt. Vielleicht gibt ja es einmal eine Gelegenheit, uns zu revanchieren. Grün ist gar nicht so weit weg von orange. Und das mag schneller gehen, als du denkst.